"Baltische Bildungsgeschichte(n). Interdisziplinäre Konferenz"

Klipi teostus: UTTV 20.09.2016 5478 vaatamist Ajalugu ja arheoloogia Keeleteadus


Für das Thema „Bildung“ stellt das Baltikum eine Schlüsselregion von besonderem exemplarischen Wert dar: Im Zuge von Handelskontakten, Christianisierung, Ordenskriegen und Rechtsimport gerieten die autochthonen Völkerschaften des baltischen Raums unter kulturelle, sprachliche und politische Einflüsse unterschiedlichen Gewichts. Sie wurden dadurch Formierungsprozessen ausgesetzt, die immer wieder mit kolonialen Prozessen verglichen werden. Auf Seite der dominierenden Kulturen (Deutsche, Dänen, Polen, Schweden, Russen) hatte dies ein beträchtliches Aufgebot an wirtschaftlichen, juristischen, religiösen und kulturellen Einrichtungen zur Folge, ein Heer von Spezialisten (Amtsleute, Juristen, Pfarrer, Literaten, Pädagogen) sollte die Machtverhältnisse auch im Bewusstsein der Beherrschten verankern. Zu diesem Zweck und aufgrund des Muttersprachengebots seit der Reformation mussten viele dieser Spezialisten sich mit den dominierten Kulturen und Sprachen beschäftigen, was in Publizistik, Literatur und Wissenschaft zu einer verstärkten Reflexion über die baltischen Sprachen und Ethnien sowie über das asymmetrische Spannungsgefüge zwischen jeweils überlegener und unterlegener Kultur führte. Gesetzgebung und kulturelle Arbeit sollten zugleich das soziale und kulturelle Überleben der herrschenden Minderheiten sichern. Diese Situation führte zu einer zeitweise in ganz Europa sichtbaren außergewöhnlichen Dichte an Bildungsanstrengungen im Baltikum (man denke nur an die zahlreichen Hofmeister des 18. Jahrhunderts, die den geistigen Austausch weit über das Baltikum hinaus sicherten). In die kulturelle Sphäre der Mächtigen hineinsozialisierte Gelehrte oft bäuerlicher Herkunft begannen schließlich von den dominanten Bildungswelten aus und mit deren Mitteln, aber gegen sie Konzepte einer ‚eigenen‘ Kultur der jeweiligen baltischen Sprachgemeinschaften zu erarbeiten. Damit einher ging eine innere Formierung der baltischen Völker seit der Zeit des ersten „nationalen Erwachens“, die oft ihrerseits Symptome einer „inneren Kolonisation“ (wie in Preußen die planmäßige Ausformung der eigenen Gesellschaft genannt wurde) zeigen. Wie alle Nationen konstituieren ja auch die baltischen Nationen sich selbst – zeitweise in erzwungener Abstimmung mit sowjetischen Vorgaben – mit Hilfe von Bildungsmaßnahmen, Schulen, Literatur, Kultur, Medien, Sprachpolitik etc. In der Gegenwart müssen sie nun umgehen mit Minderheiten, insbesondere natürlich der russischen, sowie mit Sprach- und Kulturkontaktsituationen verschiedenster Art. Baltische Geschichte, aber auch Wirtschaft, Verwaltung, Sprache, Recht, Kultur und Literatur der baltischen Länder berühren so fast unvermeidlich in fast allen ihren Dimensionen den Aspekt „Bildung“ – über die Sprach- und Kulturgrenzen hinweg lassen die Geschichten der baltischen Völker und Kulturen sich (auch) als Bildungsgeschichten erzählen. Für das Thema „Bildung“ stellt das Baltikum drüber hinaus eine Schlüsselregion von besonderem exemplarischen Wert dar: Bildung hat ja ohnehin immer eine koloniale Dimension, insofern als überlegen definierte Personen angeblich Unterlegenen mit dem Versprechen oder dem Anspruch gegenübertreten, diese einem Konzept gemäß zu „bilden“, demzufolge sie erst zu richtig ‚gebildeten‘ Menschen werden können sollen. Dass der Gegensatz zwischen Bildenden und zu Bildenden im Baltikum lange Zeit auf verschiedene ethnische Gruppen verteilt sein konnte, macht diese jeder Bildung inhärente Spannung umso sichtbarer. Das Thema „Baltische Bildungsgeschichte(n)“ bietet so Platz für viele Forschungsansätze aus allen Bereichen der kulturhistorischen wie der gegenwartsbezogenen Baltikumsforschung. Wir bitten 7 um Tagungsbeiträge, die in dieses breite Spektrum passen, seien es Analysen relevanter Diskursfelder, religiöser oder kultureller Strömungen und Einrichtungen oder ganzer wissenschaftlicher Fächer, seien es Forschungen zu exemplarischen oder herausragenden Geschichten Einzelner, Gruppen oder ganzer Völker.

Jürgen Joachimsthaler (Marburg)

Silke Pasewalck (Tartu

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Während die Stadt Dorpat, trotz aller Rückschläge, um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufblühte, geriet die städtische deutsche Lateinschule in Verfall. Von den vier vorgesehenen Lehrern gibt es ab 1761 nur noch zwei, dann nur noch einen und schließlich 1765/66 anderthalb Jahre überhaupt keinen Unterricht mehr. Der Rückgang ist begleitet von Streitigkeiten, die mit dem kirchlichen oder weltlichen Status der Lehrer zu tun haben, Konflikte, welche ihrerseits aus der Kargheit der Besoldungen resultieren. Befördert wird die schulische Katastrophe durch einen schwer vorstellbaren Mangel an kirchlicher Aufsicht. Erst 1767, mit der einsetzenden Staatskontrolle und dem Rektorat von Martin Hehn, nimmt die Schule einen neuen, und nunmehr zeitgemäßen Aufschwung. In gewisser Weise kann das Beispiel Dorpat zeigen, wie sehr – vor der Verstaatlichung – auch das institutionelle Bildungswesen durch Personen bestimmt ist. Die Grundlinien zur Kenntnis der Dorpater Schule hat Arvo Tering gezogen (1998), Ergänzungen bringt mein Aufsatz über Vater und Sohn Lenz (Balti kirjasõna ja kultuurielu valgustusajastu peeglis 2014). Mit neuen Archivfunden würde ich gerne die ungewöhnliche Konstellation im Jahrhundert der Aufklärung präzisieren.

Heinrich Bosse (Freiburg)


Lisainfo veebis: http://www.ut.ee/et/uudised/suurel-rahvusvahelisel-konverentsil-vaadeldakse-baltimaade-haridus-arenemisloo-eri-tahke